Kritische Analyse der Argumentation von Brosius-Gersdorf/Gersdorf zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht

I. Einleitung

Die von Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf und Prof. Dr. Hubertus Gersdorf Ende 2021 veröffentlichte Stellungnahme zur Verfassungsmäßigkeit einer allgemeinen Impfpflicht gegen COVID-19 spricht sich mit klarer Argumentation für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit einer solchen Pflicht aus. Die juristische Expertise des Autorenpaars ist dabei wenig umstritten. Die vorliegende kritische Analyse widmet sich jedoch der Frage, ob die Stellungnahme methodisch hinreichend differenziert, faktisch ausreichend fundiert und verfassungsdogmatisch konsistent argumentiert – insbesondere im Lichte der Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Menschenwürde.


II. Fehlende Einbeziehung medizinisch-epidemiologischer Erkenntnislage

1. Keine Quellen zu Wirksamkeit, Nebenwirkungen und Fremdschutz

Die Stellungnahme enthält keine Literatur- oder Quellenverweise zu medizinisch-epidemiologischen Grundlagen. Das ist methodisch problematisch, da zentrale Argumentationspfeiler – etwa zur Schutzwirkung, zur Pandemiekontrolle oder zur Zumutbarkeit der Impfung – auf Annahmen beruhen, nicht auf empirischer Evidenz.

Beispielsweise wird postuliert, dass die Impfung die Krankheitslast reduziert und vulnerable Gruppen schützt. Dabei wird nicht differenziert zwischen Selbst- und Fremdschutz, obwohl diese Unterscheidung verfassungsrechtlich entscheidend ist. Bereits im November 2021 war öffentlich bekannt, dass der Fremdschutz durch Impfung gegen SARS-CoV-2 nur begrenzt wirksam ist, insbesondere bei zirkulierenden Varianten wie Delta und Omikron¹.


2. Nebenwirkungen und PEI-Daten werden ignoriert

Im November 2021 lagen mehrere Sicherheitsberichte des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI) vor. Sie dokumentierten eine relevante Zahl an gemeldeten Verdachtsfällen auf Nebenwirkungen, darunter auch schwerwiegende Ereignisse wie Myokarditiden, Sinusvenenthrombosen und neurologische Komplikationen.

Zum 30. November 2021 meldete das PEI insgesamt 244.576 Verdachtsfälle, davon 29.786 als schwerwiegend klassifiziert². Dies sind keine statistischen Kleinigkeiten, sondern potenziell verfassungsrechtlich relevante Eingriffsfolgen.

Dass diese im gesamten Gutachten nicht einmal erwähnt werden, ist ein methodisches Defizit. Eine Grundrechtsabwägung, die die Risiken einer Maßnahme völlig ausblendet, kann nicht als tragfähig gelten.


III. Widersprüchliche Argumentation zu Impfdurchbrüchen

Die Stellungnahme führt Impfdurchbrüche als Argument für eine Impfpflicht an. Dies ist argumentativ widersinnig: Wenn eine Impfung nicht zuverlässig vor Infektion schützt, kann daraus keine Verpflichtung zur Impfung abgeleitet werden – insbesondere dann nicht, wenn die Wirkung vor allem dem Geimpften selbst zugutekommt.

Juristisch bedeutet das: Fremdschutz entfällt als Rechtfertigungsgrund, Selbstschutz aber genügt nicht für einen staatlich angeordneten körperlichen Eingriff.

Diese argumentative Schwäche wird in einem Artikel der Juristin Jessica Hamed anlässlich des BVerfG-Urteils zur einrichtungsbezogenen Impfpflicht treffend kritisiert:

„Die Impfpflicht basiert auf dem Mythos eines relevanten Fremdschutzes“³.

Ein Eingriff in Art. 2 Abs. 2 GG (körperliche Unversehrtheit) darf nicht mit einem medizinisch fraglichen Nutzen für Dritte begründet werden.


IV. Das Luftsicherheitsurteil als verfassungsrechtliche Schranke

Besonders gewichtig ist das Fehlen eines Bezugs auf das Luftsicherheitsurteil des BVerfG von 2006⁴. Dort erklärte das Gericht:

„Der Staat darf Menschen nicht zum bloßen Objekt staatlichen Handelns machen.“

Ein Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs mit Unschuldigen an Bord sei unzulässig – auch zur Rettung vieler. Die Grundrechte auf Leben und Menschenwürde sind nicht disponibel.

Überträgt man diese Maßstäbe, bedeutet das: Der Staat darf Einzelne nicht zwangsweise medizinisch behandeln, um andere zu schützen – zumindest nicht ohne belegbare, hochwirksame Schutzwirkung und ohne vertretbare Risiken. Beides war bei der COVID-19-Impfung im Jahr 2021 nicht hinreichend gesichert.

Die Stellungnahme umgeht dieses fundamentale verfassungsrechtliche Argument – ein gravierendes Versäumnis.


V. Fehlende Auseinandersetzung mit Alternativen

Das Gebot der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Gesetzgeber das mildeste Mittel zur Erreichung seines Ziels wählt. Die Stellungnahme prüft aber keine Alternativen zur Impfpflicht:

  • etwa freiwillige Impfkampagnen,
  • Teststrategien,
  • lokale Schutzmaßnahmen,
  • oder gezielte Aufklärung vulnerabler Gruppen.

Stattdessen wird die Impfpflicht implizit als notwendiges Mittel dargestellt – ohne empirische oder rechtliche Abwägung. Auch das ist verfassungsrechtlich nicht haltbar.


VI. Fazit

Die Stellungnahme von Brosius-Gersdorf und Gersdorf ist juristisch wohlstrukturiert, aber methodisch einseitig und in wesentlichen Punkten unvollständig:

  • Sie ignoriert medizinische Unsicherheiten und Nebenwirkungen,
  • verkennt die juristische Relevanz des Luftsicherheitsurteils,
  • konstruiert widersprüchliche Begründungen für staatlichen Zwang,
  • und versäumt die Auseinandersetzung mit verhältnismäßigen Alternativen.

Eine solche Argumentation kann keine tragfähige Grundlage für einen verfassungsgemäßen Eingriff in die körperliche Selbstbestimmung darstellen. Sie unterschätzt den Schutzbereich von Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG – und verfehlt damit die Tiefe, die eine juristische Stellungnahme in einer so sensiblen Frage leisten muss.


Fußnoten

  1. Robert Koch-Institut: „Fragen und Antworten zur COVID-19-Impfung“, Stand 25.11.2021, https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/gesamt.html
  2. PEI-Sicherheitsbericht COVID-19-Impfstoffe, Stand: 30.11.2021, https://www.pei.de/DE/newsroom/dossier/coronavirus/sicherheitsberichte/sicherheitsberichte-inhalt.html
  3. Jessica Hamed, Cicero: „Wie sich das Bundesverfassungsgericht mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht verrannt hat“, 2022, https://www.cicero.de/innenpolitik/urteil-zur-einrichtungsbezogenen-impfpflicht-bundesverfassungsgericht
  4. BVerfG, 1 BvR 357/05, Luftsicherheitsgesetz – Urteil vom 15. Februar 2006, https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2006/02/rs20060215_1bvr035705.html

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